http://www.nzz.ch/lebensart/reisen-freizeit/ein-zug-wie-aus-dem-museum-1.17209332
Rudolf Hermann ⋅ Für kurze Zeit ist der schläfrige Bahnhof von Septemwri zum Leben erwacht. Der morgendliche Schnellzug aus Sofia hat eben haltgemacht, ein Regionalzug aus Plowdiw ist angekommen und wieder weggefahren. Die Frau im Kiosk hat ein paar Kaffees verkauft und macht nun Pause, bis mittags die nächsten Züge kommen. Dagegen geht es auf einem Nebengleis geschäftig zu und her. Dort stehen vier Wagen, die mit ihren offenen Übergängen auf den ersten Blick aussehen, als stammten sie aus einem Verkehrsmuseum. Innen aber sind sie modern ausgestattet mit gepolsterten Sitzen, wie man sie aus Autocars kennt. Mit Platz wird sparsam umgegangen, denn die Wagen stehen auf Schienen mit einer Spurweite von nur 76 Zentimetern.
Bald ist auch eine urtümlich anmutende Diesellokomotive angekuppelt, und der Stationsvorstand zückt die Kelle – stilgerecht, möchte man sagen, für eine Museumsbahn. Doch das Züglein ist keine Museumsbahn. Die einzige noch betriebene Schmalspurbahn Bulgariens wurde bahntechnisch einfach noch nicht von der Moderne eingeholt.
In Etappen gebaut zwischen 1921 und 1945, stellt die gut 120 Kilometer lange Strecke von Septemwri in der thrakischen Tiefebene nach Bansko und Dobrinischte am Schnittpunkt der bis auf fast 3000 Meter aufsteigenden Gebirgszüge Rhodopen, Pirin und Rila bis heute eine wichtige Verkehrsader zur Erschliessung dieser Bergregion dar. Sie ist ein Verkehrsmittel, das als Touristenattraktion erst noch entdeckt werden will. An Potenzial fehlt es dabei nicht.
Schon bald führt das Trassee in eine wilde Schlucht. Mächtiges Geschiebe lässt die Kraft des Flusses bei Hochwasser erahnen; Bahn und Strasse drücken sich an die schroffen Felswände. Eisenbahn-Enthusiasten erfreuen die Flügelsignale von anno dazumal. Entlang der Strecke sieht man die Drahtzüge, mit denen die Anlagen immer noch manuell gesteuert werden. – Ein grosser Freund der Bahn ist auch Angel Guschkow. Der 27-jährige Zugchef der Staatsbahnen arbeitet am liebsten bei dieser Schmalspurbahn. Er sei fasziniert von der Arbeit, die beim Bau der Linie geleistet worden sei. Während er bemängelt, dass die Bahn dem Tourismus zu wenig diene und ständig in Gefahr sei, von der Staatsbahn fallengelassen zu werden, versucht er gleichzeitig, auf einer selbst erarbeiteten Website Gegensteuer zu geben.
Inzwischen hat die Lokomotive zu keuchen begonnen. Es gilt, bis zum Scheitelpunkt der Strecke mehr als 1000 Höhenmeter zu überwinden. Das Züglein verlässt den Talboden und kämpft sich in Schleifen und Kehrtunnels durch südlichen Wald die Bergflanken hoch. Bei Awramowo ist es geschafft. 1268 Meter über Meereshöhe liegt die höchste Bahnstation des Balkans, wie auf einer Tafel stolz mitgeteilt wird. Nicht zuletzt deshalb ist die Rhodopen-Bahn auch schon mit dem Namen «rhätische Bahn des Balkans» bedacht worden.
Fünf Stunden dauert die unterhaltsame Fahrt zwischen Septemwri und Bansko/Dobrinischte. Im Wagen ist es lebhaft geworden; in der Bäderstadt Welingrad ist eine grosse Gruppe von Roma mit Kind und Kegel zugestiegen. Bei Awramowo fällt der Blick aus dem Fenster auf eine weitere Volksgruppe: die sogenannten Pomaken, eine bulgarisch-muslimische Minderheit. Ihre zahlreichen, hübschen Bergdörfer überraschen mit spitzen Minaretten, die sich in den Himmel recken. Gruppen von Frauen in Kopftüchern und orientalisch anmutenden Kleidern fahren mit dem Zug ein paar Stationen weit nach Jakoruda, wo gerade Markttag ist.
Die Rhodopen-Bahn bietet täglich 3 Verbindungen in jeder Richtung an, mit Anschluss von/zu Schnellzügen nach Sofia und Plowdiw, wo sich internationale Flughäfen befinden. Unterkunftsmöglichkeiten und eine touristische Infrastruktur existieren in Bansko und in Welingrad. Sonst ist die Gegend schwach erschlossen.